Sehnsucht nach dem einfachen Leben.

Sehnsucht nach dem einfachen Leben.

Improvisationen über den Selbstwiderspruch der Moderne

 

I Der Selbstwiderspruch der Moderne

1.

Die Moderne durchzieht ein eigenartiger Impuls, welcher ihrem eigenen Programm widerstreitet: das ist ein anti-zivilisatorischer, ein anti-szientifischer und anti-technizistischer Impuls, der sie bis heute, noch in Post- und Post-Postmoderne, nicht verlassen hat.

 

Er zeigt sich in einem irgendwie schmerzlich gespürten Unbehaustsein des modernen Menschen, in einer tiefen Sehnsucht danach, zuhause zu sein. So zieht es ihn denn an Orte eines vielleicht unmittelbar erfahrbaren Noch-in-Ordnung-seins.

Solche Befindlichkeit liebt den morbiden Verfall in den alten Städten Italiens, den verlassenen Dörfern der Provence, Griechenlands oder anderen, oft weitab liegenden Orten, die als ursprünglich und authentisch erfahrbar gelten, auch oft noch wegen der kulturellen und künstlerischen Zeichen ihrer einst agrarisch dominierten Produktionswei­se, in der sie gründen.

 

Wie in manchen alten Städten Italiens scheint sich seit Jahrhunderten vieles nicht verändert zu haben. Vieles dort zeigt sich etwas verrottet, ein wenig verfallen gar. Dennoch werden viele Dinge noch immer so genutzt, wie es überliefert ist. Kein Wunsch drängt nach Verbesserung, kein Bedürfnis, zu verändern, was lange schon – und lange noch – gut ist und gut bleibt.

Ja, der Verfall wird zum untrüglichen Zeichen wahrer Substanz, dem Beharrende in der Zeit. Das bleibt bestehen in einem Zusammenspiel von menschlichem Gestaltungswillen und Natur, in einem Kräftespiel zwischen unaufhaltsamem Wirken der Zeit und einem entgegenwirkenden, ökono­misch geprägten Ordnungssinn. So hat es wohl jeder von uns schon erlebt, vor allem jeder von uns Morgenlandfahrern (Hesse) der seligen sechziger Jahre.

Darin, scheint es, birgt sich ein in sich ruhendes Beisichsein, ein autarkes, selbstgenügsames und einfaches Leben. Aber das zeigt sich nur noch fragmentarisch und in seltenen und leisen Andeutungen, es scheint uns gleichwohl irgendwie vollkommen und jetzt und hier schlechthin notwendig und anwesend zu sein, ein verborgenes, immer und immer wieder gesuchtes und selten gefundenes geheimes „Morgenland“.

 

Es mag wohl jene Haltung des Sein-lassens der Dinge sein, welche auch in uns ein vertrautes Gefühl zuhause zu sein, in Resonanz mit eben diesen Dingen bringt.

Ein Empfinden, Wahrnehmen und Erleben, mit dem Seinlassen der Dinge selber auch zur Gelassenheit  zu kommen, zum in sich ruhenden Beisichsein, einer autarken, selbstgenüg­sa­men Glückselig­keit.

Eudaimonia, nannten das die hellenistischen Griechen. „Gott, was ist Glück!“ ruft Fontane, „Eine Griessuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen, – das ist schon viel.“ Und er traf damit ziemlich gut, was manche der Griechen damit meinten. Nebenher mag die Moderne toben.

Und wie sie tobte:

Theodor Fontane war aufmerksamer Zeitgenosse jener ersten industriellen Revolution, die seit dem 18. Jahrhundert von England ausgehend Europa umwälzt und seit etwa 1830 auch in Preußen ausgebrochen war.

Jene erste industrielle Revolution beruhte – wir wissen das – auf der damals neuen Wissenschaft der Thermodynamik, mit der die Technik der Dampfmaschine zusam­men mit den Werkzeugmaschinen und den reichen gewerblichen Erfahrungen der Menschen in differenzierter Arbeits­teilung und Kooperation in den Manufakturen des 18. Jahrhunderts das Industriesystem erschuf. Die Herstellung aller möglichen Güter wurde in großen Fabriken organisiert. Zuerst in der Schwerindustrie, im Gewerbe, aber auch in der Landwirtschaft.

Seither kann an jedem beliebigen Ort der Welt industriell produziert werden, sofern genügend billige Rohstoffe, billige Arbeitskraft, unternehmerische Tatkraft und Kapital zur Verfügung stehen.

 

Das Investitionskapital begann schnell den Reichtum eines einzelnen Unternehmers zu übersteigen. Also legten sie zusammen und gründeten Aktiengesellschaften. Und wenn das immer noch nicht reichte,  stellten neue Kreditbanken das Geld für die notwendigen Investitionen aus dem Sparfond ihrer Kunden und Anleger zur Verfügung.

 

Gesellschaft wird nun als eine Art technisches System verstanden und zur herrschenden Vorstellung und die – so scheint es – spiegelt die zunehmende Industrialisierung des Lebens überhaupt und folglich Anpas­sung und technische Abrichtung der Menschen weit über das Industriewerk hinaus.

1883 be­schreibt Wilhelm Dilthey jene Vorstellung bereits als soziale Realität in diesem Bild: „Die Gesellschaft ist einem großen Maschi­nenbetrieb vergleichbar, welcher durch die Dienste unzähliger Personen in Gang erhalten wird: der mit der isolierten Technik seines Einzelberufes innerhalb ihrer Ausgerüstete ist, wie vortrefflich er auch diese Technik inne habe, in der Lage eines Arbeiters, der ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte diesen Betriebs beschäftigt ist, ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen, ja ohne von den anderen Teilen dieses Betriebs und ihrem Zusammenwirken zu dem Zweck des Ganzen eine Vorstellung zu haben. Er ist ein dienendes Werkzeug der Gesellschaft, nicht ihr mitgestaltendes Organ.“ (Dilthey, 61966: 3)

Wie sehr dieses Bild doch an eine sehr, sehr alte Vorstellung erinnert und wohl noch von ihr geformt ist. Nämlich der Vorstellung einer schon immer und für immer bestehenden Ordnung, welche jedem einzelnen seinen Platz im Ganzen des Seienden zuweist, „ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen … und ohne vom Zweck des Ganzen eine Vorstellung zu haben.“

Aber was bis dahin als Gebor­gen­sein in einer gottge­wollten und bestimmten, immer währenden Ordnung galt wird jetzt, so scheint es, zur drohenden Gefahr! Dialektik der Moderne?

 

2. Geschichtlicher Horizont der Industriellen Revolution

Was war geschehen? Um das sehen zu können bedarf es eines Blickes aus der Ferne, jedoch ohne die Unmittelbarkeit des akuten Geschehens, die industrielle Revolution, aus dem Blick zu lassen. Entfernen wir und also und bringen uns wie mit einem Zoomobjektiv ausgerüstet in jene Distanz, welche uns den Blick aus einer geschichtlich großen Ferne zugleich in eine Weite öffnet, welche ihn auf das freigibt, was sich im Horizont des Geschehens noch zeigt und  nun mit im zugleich wahrnehmbar wird.

 

Jenes Geschehen, wir hatten es als erste industrielle Revolution gekennzeichnet, bleibt im Blick: Was wir zuerst sehen ist der Übergang von der Agrar- zur Industrieproduktion.

Mit dem Übergang aber fand weltweit, auch in Deutschland eine solche grundstürzende Umwälzung der herkömmlichen Kultur statt, wie sie in Jahrtausenden nicht vorgekommen war.

Wie war das vorher? Schauen wir also einmal weit zurück: Seit die Menschen in der Neolitischen Revolution sesshaft geworden waren, also seit etwa 8000 Jahren, gründete jede Kultur in der Agrarischen Produktionsweise. Sie war die Grundlage der biotischen, materiellen, gesellschaft­lichen und geistigen Reproduktion der Menschen, das heißt ihrer Selbsterhaltung im Wechsel der Generationen und der Jahreszeiten mit Hilfe ihres von Generation zu Generation überlieferten und angereicherten Wissens. Hier, in dieser gleichsam natürlichen Wirtschaft, war Geld nicht wirklich nötig. Dennoch fanden alle, die zur Familie und zum Hof gehörten, ihr – wenn auch manchmal karges – Auskommen, konnten sich vermittels ihrer eigenen agrarischen Produktion selbst versorgen. Darin gründete auch jene gottgewollte, immerwährende christliche Ordnung. Aber diese Wirtschaftsweise ist weit älter als das Christentum.

Seit Augustinus bis zu Thomas von Aquin und darüber hinaus stiftete das Christentum  den europäischen Stil dieser Ordnung: Das Christlichen Abendland.  Das wirkte noch weit, wirkt zuweilen bis heute.

Manche frühe Sozialismusvorstellung, fand in jener Agrarischen Produktionsweise ihr romantisches Urbild: in der Wirtschaftseinheit des Oikos, des ganzen Hauses, wo jeder, wie es von heute aus erscheinen kann, sein Auskommen finden konnte und sein Leben im Einklang mit sich selbst und der Natur  beschaulich und stetig führten. Das war geschichtlich zu keiner Zeit der Fall, ist dennoch eine schöne Vorstellung.

Das genau ist im ernsten Sinne eine Utopie, ein U-Topos, ein Un-Ort, den niemand je finden wird, außer in der eigenen Sehnsucht nach einem gleichsam vor-industriellen, einfachen, unschuldigen Leben.

 

Mit der Industriellen Revolution nun wurden jene alt-ehrwürdige Kultur, ihr überliefertes Wissen und die entsprechenden Lebensweisen vollständig entwertet. Eine Jahrtausende alte Kultur wurde abgebrochen, abgekoppelt und zurückgelassen. Ja, ihr Fundament ihre Naturbeziehung in der diese Kultur gründete, verschob sich hin in eine ganz andere Art Naturbeziehung.

Sie ist von einer direkt vermittelten zu einer indirekt vermittelten Beziehung geworden. Wir werden sehen.

 

Nicht immer ist dies in aller Klarheit gesehen worden. Und zuweilen kann man glauben, dass unser kulturelles Langzeitgedächtnis, welches ja wesentlich in jener langen Epoche gebildet und geprägt worden ist, von diesem nachhaltigen Umbruch nicht mehr als eine kleine Irritation, nur als kleine Störung des Immerwährenden mitbekommen hat, um schnell wieder dem Alten zu verfallen.

Den radikalen Umbruch ihres Fundaments, den Umbuch der Naturbeziehung der Kultur entzieht ihrer Aufmerksamkeit.

 

Man kann sich diesen Bruch aber nicht tief und hart genug vorstellen!

 

Der damalige Zeitgenosse und Philosoph Friedrich Nietzsche sprach von völliger „Umwertung aller Werte“ und von „Nihilismus“, von kulturellem Nichts, das nur mehr übrig bleiben wird.  „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt …“ dichtete er.

Entwurzelung, Verlust von Heimat, unbezweifelbare Gewissheiten zerbrachen, und seit Jahrhunderten überlieferte und gelebte Bräuche verloren ihren Sinn. Schon damals entstand ein tiefes Misstrauen in die Naturwissenschaften und mit ihm die grundlose Sehnsucht nach einem irgendwie vorwissenschaftlichen, vortechnischen Heil im Horizont der agrarischen Lebensweise und, von dort aus gesehenen, diesseits des „Mechanischen“. Mit dem was man damals Mechanisierung der Produktion nannte, fürchtete man, ginge eine Mechanisierung des Lebens überhaupt und vor allem der Seele einher.

Eine vollständige Reduktion bedrohe alle Lebensäußerungen allein auf das, was mit wissenschaftlich-analytischem Verstand mess- , errechen- und verwertbar ist. Dagegen setzte man die Seele als das Andere des Verstandes. Der „Untergang des Abendlandes“ wurde gefürchtet und „Der Geist als Widersacher der Seele“ So hießen zwei erfolgreiche Titel damals. Und Friedrich Nietzsche schien mit seiner Unterscheidung des Dionysischen, Ursprünglichen, Unbewussten und Rauschhaften und des Apollinischen, dem Hellen, Klaren und verstandesmäßigen die gültige Signatur der Epoche gefunden zu haben. Aber er war kein Feind der Wissenschaften!

 

„Die Kunst und das unbewusste Schaffen ist die Sprache der Seele, die Wissenschaft und das bewusste Schaffen ist die Sprache des Verstandes.

Die Seele nähert sich vom Lebensdrang, der Verstand von der Todesfurcht.“ So klingt das bei dem klugen Walter Rathenau, dem Berliner Industriellen und Außenminister Deutschlands. Wie schön ist das gesagt!

 

Auch zeigte sich dem neuen, schnell reich gewordenen Bürgertum die überaus hohe Zerbrechlichkeit ihrer jungen, oft parvenühaften Kultur. Mit Grauen entdeckten sie die Gefahr des Ver­falls und sozialen Absturzes. Sie rückten zusammen und grenzten sich ab. Inklusion und Exklusion, so nennen wir das heute. Sie schlossen alle aus, von denen sie sich bedroht fühl­ten.

Wer so meint, stark werden zu müssen, braucht dafür starke Feinde!

Zu Feinden erklärten sie die Arbeiter sowieso, den Kommunismus, die Sozialdemokratie, den Liberalismus, die Demokra­tie überhaupt, die Juden, die moderne Kunst, moderne Malerei und Literatur, und sie warteten und hofften auf einen Erlöser, dass er sie aus großer Gefahr befreie: Einen „Parsifal“. Einen „Erlöser“ wagnerianischer, allerdings nicht wagnerscher Art. Einen der sie heimbringe in jene verlorene gottgewollte Ordnung der Krieger, Priester und Bauern.

 

So, genau so, zeigt sich der Selbstwiderspruch der Moderne: als radikales, antimodernes, aber politisch und kulturell sehr wirksames Ressentiment der damaligen Eliten, welche doch zugleich die wissenschaftlich-technischen Fundamente der Moderne legten.

Und man kann sagen, dass die Eliten in zwei wesentlichen Fragen ihrer Zeit vollständig und nachhaltig versagt haben:

1.      in Ihrer Haltung zur Wissenschaft und wissenschaftlichen Technik und

2.      in ihrer Haltung zur ersten großen Krise  jener neuen Epoche,  jene aus beginnender Industrialisierung der Landwirtschaft, endgültiger Aufhebung der Leibeigenschaft und verbesserter medizinischer Versorgung gespeiste Bevölkerungsüberproduktionskrise freier Arbeitskraft. Sie gewann ihre politisch bis heute übermächtige Gestalt unter dem Namen: „die soziale Frage“.

Beide Fragen wehrten die Eliten aggressiv ab, anstatt sich ihnen zu stellen!

 

Später dann, im ersten Großen Krieg des 20. Jahrhunderts, in welchem die sehr alten Mächte noch einmal den Raum des Politischen hatten usurpieren können und für den Krieg zu öffnen, hatten sie erfolgreich damit begon­nen – ganz und gar  in jenem Selbstwiderspruch der Moderne stehend – mit den Mitteln der Moderne, aber in unversöhnli­chem Hass auf die Moderne, jenes seit Langem so genannte europäische „Heilige  Römische Reich Deutscher Nation“, dessen verblassende Umrisse noch bis 1815, dem Ende der napoleonischen Besetzung und danach künstlich restauriert bestanden hatte, nachhaltig zu zerstören. Wahrlich: Sie machten reinen Tisch!

 

Und Stefan George dichtet:

 

„Zujubeln ziemt nicht : kein triumf wird sein .

Nur viele untergänge ohne würde ..

Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig

Unform von blei und blech . geständig rohr.

Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden

Von vormals klingen der als brei und klumpen

Den bruder sinken sah . der in der schandbar

Zerwühlten erde hauste wie geziefer ..

Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.

Erkrankte Welten fiebern sich zu ende

In dem getob. Heilig sind nur die säfte

Noch makelfrei verpritzt – ein ganzer strom.“

 

1918, am Ende jenes ersten Großen Krieges hatte die Welt drei Kaiserreiche verloren und das europäische „Christliche Abend­land“ war erloschen. Ein Kulturbruch größten Ausmaßes! Aber sie gaben nicht auf!

 

Die wissenschaftlich-technische Moderne, mit ihrem Anspruch auf privatwirtschaftliches, zweckgeleitetes Handeln und verhandeln, ihrem Anspruch auf persönliche, durch keine religiöse Bevormundung beschränkte Freiheit, freie Assoziation, liberale und demokratische Zivilgesell­schaft, welche sich jetzt zu behaupten hatte, wurde von eben denselben Mächten bis aufs Blut bekämpft.

Diese neue Sozialform, die von freien Personen durch wechselseitiges und interessengeleitetes und assoziiertes Handeln gestiftete Gesellschaft, hatte keine Chance. Zivilist war damals, spätestens seit dem Kaiserreich ein ehrab­schnei­den­des Schimpfwort und der dazu gegenläufige Spott und ätzende Hohn auf den „Untertan“ blieb völlig ohne Kraft.

 

So blieb allein, der Krieg, das Militärische die Sozialform jener alten, aristokratischen Mächte, in sich verwandelnder Gestalt, in der Moderne auch politisch an der Macht. Bis hin zum Ende des Nationalsozialismus herrschte in Westeuropa eine Art Krie­ger­ge­sel­lschaft, welche sich zivil gebend, sich alles Zivile unterwarf – voll im Selbstwiderspruch der Moderne: Krieg und Kriegsproduktion, Waffen, Waffensysteme und militärische und paramilitärische Infrastruktur werden zum Fundament moderner Industrie dieser modernen Kriegerkultur!

 

Und auch heute scheint Krieg wieder zu einer vorherrschen Sozialform in aller Welt zu werden. Das Politische muss gar nicht erst außer Kraft gesetzt werden; es wird gleich vom Krieg ersetzt. Jedoch nicht mehr in der Gestalt der Stahlgewitter jener europäischen wissenschaftlich-technischen monströsen Ungeheuer, vielmehr in Gestalt von Banden-, Stammes- und Religionskriegen, wie im arabisch-wahabitischen, muslimischen Djihad überall in der Welt oder wie in Nigeria, wo Muslime die Christen zu Hunderten morden und Christen die Muslime, dabei auch Frauen und Kinder nicht verschonen, und wo auch immer in der Welt.

Als sei der Satz Spinozas „determinatio negatio est“ Bestimmung ist Verneinung, ja Vernichtung der materiell gewordene Sinn vom Sein solchen Daseins, und Spinozas „appetitus“, die Begierde sein leading spirit: „Warum soll ich teilen, wenn ich auch alles haben kann?“ Kalaschnikow heißt das erste Produktionsmittel dieses neuen Reichtums, Vernichtung, Vertreibung, Raub und Vergewaltigung seine erste Wirtschafts­weise.

Krieg, das ist eine sehr alte Sozialform reinen, ausschließenden Männlichseins; neben Gemein­schaft und Gesellschaft. Auch das wird bisher zu wenig zu oft gar nicht gesehen – außer von Max Weber. Und seit nine-eleven ist seine dauernde Anwesenheit auch für uns wieder sinnfällig geworden.

 

II Natur und Kunst. Analytik der Bewegung

2.1. Ein erhellender Rückgang zu Aristoteles

Die Frage ist: Was ist „Industrielle Revolution“? Wissenschaftlich-technische Revolution ist und wird offenbar Fundament der Moderne! Wir werden nicht umhin kommen, uns zu vergegenwärtigen, was wir meinen, wenn wir die Worte Wissenschaft und Technik verwenden und wir sind gezwungen, da etwas genauer zu werden, um den Zusammenhang von Wissen, Wissenschaft, Wissenschaftlicher Technik und Moderne zu verstehen.

Gewöhnlich zeigen sich uns bei der Verwendung des Wortes Technik dingliche Vorstellungen: Technik, das sind Maschinen, Maschinenparks, Verbundsysteme, Ver­fah­rens- und Fließ­systeme, Mensch-Maschine-, EDV-gestützte Automatensysteme und wissenschaftlich-technische soziale globale Netzwerke. Diese Bilder haben zumeist allein die technischen Aggregate, die technischen Systeme im Blick.

 

Um hingegen zu einem Verständnis des Wesens dieser revolutionären, modernen Technik vorzudringen, müssen wir diese dingliche Vorstellung irgendwie verflüssigen – dafür bietet sich ein weiterer Rückgang an: Ein Weg zurück zu Aristoteles an. Wie das? Nun: Einmal wegen der Wortwurzel „techne“ im Wort „Technik“, welche auf ihn zurückgeht und dann – so erstaunlich es scheinen mag – weil Aristoteles uns dazu einiges sagen kann.

 

Technik, schlage ich nun vor, soll hier im Sinne des altgriechischen Begriffs Kunst verwendet werden, aber verstanden als  techne, als eine Kenntnis- oder Wissensart, die als Kunst oder Kunstfertigkeit dem Hervorbringen (gr.:poiein)  zugrunde liegt und mit ihm unauflöslich verbunden ist, wie das noch die Griechen verstanden.

Kunst, Kunstfertigkeit und Hervorbringen sind nur wirklich im selben Geschehen; das ist die Bewegung des Hervor­bringens von etwas. ‚Techne’ bezeichnet kein Ding, Werkzeug oder Aggregat, sondern ein Wissen, nämlich das Wissen, welches, wie Aristoteles sagt, in der Kenntnis der Regeln für ein solches hervorbringendes Tun besteht. Kenntnis der Regeln ist hier ganz einfach gedacht und gehört spezifisch zu der besonderen Art des hervorbringenden Tuns, etwa die Kenntnis der Regeln zum ers Schuhe Machens oder irgendeines anderen Handwerks, aber auch wie etwa die Syntax Kenntnis der Regeln zur Erzeugung von Sätzen ist oder die sog. Grundrechenarten die Kenntnis der Regeln des Umgangs mit Zahlen und zur Bildung Summen und Differenzen aller Art .

 

Ich schlage hier also in Hinsicht auf Technik einen Pardigmenwechsel vor, in welchem Dasselbe im Blick bleibt, aber in anderer, neuer Gestalt erscheint.

Wir wenden den Blick ab von den technischen Dingen und Aggregaten und wenden ihn hin zu einer oder mehreren Wissensarten, also auf  Erkenntnisvermögen des Men­schen. Diesen Wechsel, die Abwendung des Blicks von den Dingen und seine Hinwendung zu Erkenntnisvermögen  finden wir nicht erst bei Kant, der ihn neuzeitlich wieder erinnerte, sondern schon bei Aristoteles! Um es deutlich zu sagen, er begründete dieses Paradigma; mit Kant jedoch können wir wieder dahin zurückkehren!

 

Für diese Auffassung können uns wir deshalb gut auf Aristoteles berufen. Techne im Sinne von Kunst gehört zu zentralen Begriffsbildungen bei Aristoteles und findet sich wesentlich an zwei Stellen seines Werkes.

1.   In der “Physik”, Buch II in seiner Unterscheidung von Natur und Kunst, wobei es Aristoteles hier speziell um die Bestimmung des Wesens der Bewegung geht.

 

2.   In der “Nikomachischen  Ethik”, Buch VI, 3 folgende, bei der Unterscheidung von Denken (theorein), Handeln (prattein) und Hervorbringen (poiein).

(vgl.: Klaus Bartels, Der Begriff der techne bei Aristoteles, in: Synousia, Festgabe für Wolfgang Schadewaldt zum 15. März 1965, im Namen seiner Tübinger Schüler Herausgegeben von Hellmut Flashaar und Konrad Geiser, Pfullingen 1965)

Nebenbei: eigentlich heißt Denken im Griechischen ‚noein’ – und ‚theorein’ heißt 1. Zuschauer sein, betrachten, 2. geistig anschauen, erwägen, überlegen, meint also eine Haltung, die wir heute (anschauenden) Verstand nennen.

 

Wir dürfen also erwarten, dass Aristoteles in seinen Überlegungen zu Natur und Kunst nicht von Dingen spricht, sondern von etwas anderem; tatsächlich spricht er hier von Bewegung und entwickelt eine

 

2.2.  Analytik der Bewegung.

 

Natur und Kunst, sagt Aristoteles haben etwas gemeinsam, aber sie unterscheiden sich auch.  Beiden gemeinsam, sagt Aristoteles, ist ihnen Bewegung.

Diese Bewegung ist von spezifischer Art, unterschieden von anderen Arten der Bewe­gung, die er hier aber nicht weiter erwähnt.

Natur und Kunst, bewegen sich nämlich in einem bestimmten Modus, auch den haben sie gemeinsam: den Modus des Werdens.

Im Werden selbst aber, unterscheiden sich beide, Natur und Kunst:

 

Sie unterscheiden sich nach dem telos, dem sie in ihrem Werden folgen.

Telos ist hier das analytisch letzte, nicht mehr unterscheidbare und auf Anderes zurückführbare Element der Bewegung.

Halten wir fest und bedenken: Weder Kunst noch Natur sind dinglich gedacht, wie wir es gewohnt sind; im Gegenteil Kunst und Natur sind Arten der Gattung Bewegungen.

Das Werden der Naturdinge’ (phyein), folgt einem ,telos’, einem Zweck, den sie in sich selbst haben und auf den hin sie sich bewegen: wie die Knospe, deren Aufgehen als Blüte von ihr selbst her geschieht und die dann im Blühen und Verblühen nach der Befruchtung, ihrem telos folgt und sich selbst dabei genügt.  Das ist eine Vorstellung, die noch bis heute gilt und unter dem Namen Teleonomie von dem großen Evolutionsbiologen Ernst Mayr in die Evolutionsbiologie eingeführt worden ist.

Aristoteles verwendet für einen solchen Vorgang das Wort „Entelechie“ das zusammengesetzt ist aus ‚en’, was im Deutschen als  ‚in’ wiedergegeben werden kann, aus telos ‚Ziel’ und ‚echein’ haben – Entelechie heißt soviel wie „sein Ziel in sich  haben.“

Der Art nach verschieden davon aber, ist das telos des Hervorbrin­gens (poiein) von etwas durch Kunst (techne). Dieser Bewegungsmodus ist im Verständnis des Aristoteles auch ein Werden, bei dem aber der Zweck des Werdens, das telos, dem es folgt  ein “Um-willen” ist. Der Zweck ist etwas dem Hervorbringen Äußerliches, d.h. es findet sich nicht im Hervorbringen selbst schon, sondern erst im Hervorgebrachten, wenn es vollendet ist und wenn es dem, der es hervorbringt genügt. Der Hervorbringende, das ist zuerst der Künstler aber auch der Handwerker

So finden wir diesem schönen Beispiel aristotelischer analytisch-synthetischer Methode Schritt für Schritt folgend, Natur und Kunst als Bewegung, Beide unterschieden nach dem Modus ihrer gemeinsamen Bewegung, dem Werden, das aber unterscheidet sich nach dem telos, dem Kunst und Natur in ihrem Werden jeweils folgen.

Die Dinge der Natur haben das Prinzip ihres Werdens in sich selbst, im Wachsen.

Die Dinge der Kunst jedoch haben das das Prinzip, den Grund der Bewegung ihres Werdens (gr.: arche tes kineseos, lat.:causa efficiens) nicht in sich selbst, sondern im Hervorbringenden – wiewohl auch er in der Wirklichkeit der Entelechie steht. Sie ist universal, das Umgreifende schlechthin.

Von den beiden Arten des Werdens heißt die eine Art ,physis’ und bezeichnet ein Werden im Sinne des Wachsens und Hervorkom­mens von ­Dingen der Natur, die andere Art heißt ,poiesis’ und bezeichnet ein Werden im Sinne des Hervorbringens von Dingen der Kunst.

Kunst meint dabei in der Antike ausdrücklich nicht nur das, was in unserem heutigen, engen ästhetischen Sinne Kunst heißt, sondern auch alle kunstfertigen also in einer Kenntnis von Regeln gegründeten Handwerke bis hin zur therapeutischen Kunst der Ärzte.

Soviel zur Unterscheidung der Bewegung von Kunst und Natur, in ihren unterschiedlichen Modi des Werdens, als Entelechie des Hervorkommens und Hervorbringens!

 

2.3. Analytik der Kunst

 

Wenden wir uns nun der Kunst als techne zu, als Wissensart, als Kenntnis der Regeln hervorbringenden Tuns. Dabei wird es darum gehen, zu verstehen, wie die Wissensart techne  mit der Bewegungsart poiesis zusammen geschehen.

Wie spielen sie zusammen techne, das Wissens und poiesis, das Hervorbringen?

 

Wie Kunst, techne, und Hervorbringen, poiein, sich zu einander verhalten, sagt uns Aristoteles in der “Nikomachischen Ethik”. Dort untersucht und unterscheidet er Verhaltensarten des Menschen. Er unterscheidet in unserm Fall die Verhaltensarten des Hervorbringens (poiein, poiesis) – das interessiert uns – und des Handelns (prattein, praxis) und untersucht beide. (NE VI, 3). Auch hier folgt er seiner bewährten Methode der Analyse und Synthese: was ist ihnen gemeinsam und was unterscheidet sie und wie setzen sie sich zusammen?

 

Beide, Hervorbringen und Handeln, sagt er, sind Habitus, d.h. „eine mit Verstand verbundene Verhaltens- und Daseinsweise des Menschen“ – ein, wie man heute sagen kann, intelligentes Verhalten. Das haben sie gemeinsam. Habitus zu sein.

Habitus, ist auf etwas gerichtet. Er richtet sich auf Seiendes, das so, aber auch anders sein kann, also auf Veränderliches, oder wie heute gern gesagt wird, auf Kontingentes.

 

Allerdings, sagt uns Aristoteles, das Handeln, und da liegt der Unterschied, ist so wenig ein Hervorbringen als das Hervorbringen ein Handeln ist.

 

Worin unterscheiden sich beide? Sie unterscheiden sich zuerst, sagt Aristoteles, nach der Art ihres Wissens

Wie der Habitus Handeln (prattein) der Klugheit (phronesis), so bedarf der Habitus Hervorbringen der Kenntnis von Regeln (techne). Beide – phronesis und techne – sind nun verstanden als Wissensarten unterschiedenen intelligenten Verhaltens.

 

Es gehören also synthetisch zusammen:

techne/poiesis im Habitus des Hervorbringens, und phronesis/praxis im Habitus des Handelns.

 

Nun können wir sehen, was sich uns im verdinglichten Paradigma von Technik bisher verbarg.

Jener Unterschied im telos der Bewegungen von Kunst und Natur und dieses Zusammengehören (sythesis) von Wissens- und Tätigkeitsarten im Habitus, welche das Hervorbringen als Synthesis von techne und poiein verstehen, sowie das Handeln als Synthesis von phronesis (Klugheit) und prattein (Halndeln) – diese Sythesis der unterschiedlichen Wissensarten mit ihrem unterschiedlichem Tun im Habitus, sind oft und bis heute nicht genau gesehen worden.

 

Das zeigt schon die herkömmliche Rede von Theorie und Praxis, gar ihrer Einheit. Das Griechische Theorein im Sinne von Verhaltensarten, des Zuschauens und Betrachtens oder der Wissensarten, des etwas geistig Anschauens und Erwägens, kommt in diesen Zusammenhängen gar nicht vor.

 

Dies ist keineswegs allein einer etwas nachlässigen Lektüre geschuldet, welche sich in der Tradition bis heute fortschleppt, vielmehr handelt es sich um ei­nen Kernpunkt dessen, was Heidegger Seinsvergessenheit nennt, wenigstens um eine tief greifende Verformung in der Wahrnehmung menschlichen Wesens, nämlich seiner ihm eigenen Verhaltensarten und darin die Zusammen­ge­hörigkeit, von Kunst und Natur.

Aber erst die Synthese jenes Unterschiedes von Kunst und Natur mit dem Zusammengehören von Wissen und Tun im Habitus des Hervorbringens wird uns zu einem angemessenen Verständnis  des Ganzen führen – zur

 

2.4. Sythesis von Kunst und Natur: die Conditio humana.

 

Dies nun ist ein dritter Aspekt und er erhellt uns erst die Reichweite der aristotelischen Auffassung von Kunst im Wort techne. Und der kann uns schließlich den Unterschied zur modernen, neuzeitlichen Technik sinnfällig machen.

Dies ergibt sich aus der Synthese, der gegenseitigen Beziehung der beiden Arten der Bewegung, des Werdens der Dinge der Natur und des Werdens der Dinge der Kunst, die wir eben mit Aristoteles unterschiedenen haben.

Die Frage ist: Wie verhalten sie sich Kunst und Natur zu einander?

 

Kunst wird von Aristoteles nämlich hier nicht abstrakt als eine willkürliche “Setzung” (thesis) verstanden, sondern sie wird in einem engen Zusammenhang mit Natur gesehen. Der Gegensatz zwischen dem durch “angenommene Geltung” (nomo) gesetzte (thesei) und dem von Natur aus (physei) gewachsene Seiende ist für ihn nicht getrennt und gegensätzlich – das kann für Aristoteles gar nicht anders sein, stehen sie doch in der Wirklichkeit  derselben, alles umgreifenden Entelechie.

 

Vielmehr, sagt Aristoteles, „vollendet Kunst das, was die Natur nicht vollenden kann oder Kunst ahmt die Natur nach“.

 

Techne/poiesis/physis, Kunst/Hervorbrin­gen/Hervor­kommen gehören hier offenbar in dieselbe, wenngleich unterscheidbare, aber nicht scheidbare Bewe­gung des Werdens. Darin sich das Werden in zwei unterscheidbare, aber nicht scheidbare Modi auslegt: Hervorkommen und Hervorbringen. Und beide entschlüsseln sich im Habitus als intelligentes Verhalten. (Sic!)

 

Kunst und Natur im aristotelischen Sinne bewegen sich, wie sich jetzt zeigt, in einem gegenseitigen Gefüge verschiedener Bezüge. Einmal im Bezug der Nachahmung der Natur durch Kunst und das andere mal im Bezug ihre Vollendung durch die Kunst, als Vollendung dessen, was die Natur selbst nicht vollenden kann.

 

In beiden Beziehungen ist Natur das Andere der Kunst und umgekehrt, aber nicht als abstrakter, abgetrennter und fortgeschleppter Gegenstand im Sinne von getrennt Gegenüber­stehen­dem. Ganz im Gegenteil:

In bewusster Analogie zu jenem berühmten Satz im Fragment 3 in „Über die Natur“ des Parmenides. „denn dasselbe ist sein und denken“

Kann mit Aristoteles gesagt werden:

 

Denn dasselbe ist Kunst und Natur.

 

Kunst und Natur sind gemeinsam – mit­ein­ander – und:

Sie sind gleich­ur­sprünglich!

Wo Kunst ist, ist Natur und umgekehrt, wo Natur ist, ist Kunst.

Andernfalls ist Wildnis!

 

Man kann auch sagen: Natur ist alles, was sich (menschlichem) intelligenten Verhalten erschließt. Oder in Anlehnung an eine berühmte Formulierung Immanuel Kants: Natur überhaupt ist (verstandene) Regelhaftigkeit der Erscheinungen oder

Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach einer Kenntnis von Regeln bestimmt ist.

 

In diesem Verständnis ist das Werden im Sinne  von Techne/poiesis/physis, (Wissen/Hervorbringen/Hervorkommen) welches gleichwertig auch invers als physis/poiesis/techne (Hervorkommen/Hervorbringen/Wissen) geschrieben und gelesen werden kann, die aristotelisch gefasste Conditio humana.

 

Kunst im aristotelischen Sinne, kann man nun sagen, bezeichnet eine Seinweise: nämlich das wissende, wechselseitige Hervorkommen-lassen (physis) und Hervorbringen-könnens (poiesis) des Seins des Seiendem. Kunst ist Werden des Daseins;  Sie lässt im Sich-selbst-hervorbringen je einzelnes Dasein als  In-der-Welt-sein im Ganzen hervorkommen; und dies muss in intelligentem Verhalten  je und je und jeden Tag neu geschehen und sich vollenden. Das geschieht im widerstreiten­den Zusammensein des dem Dasein Verfügbaren und Unverfügbaren. Solches Dasein geht vollständig in Kunst und der Künstler vollständig im Dasein auf.  Dem ,anthropos’ entbirgt und eröffnet sich Welt: Der Himmel und die Erde, die Sonne und das Meer.

 

Oder dasselbe, aber invers gesagt:

“Im Menschen”, sagt Schelling ganz im hesperischen Sinne Hölderlins, “schlägt die Natur die Augen auf”: Im seligen und selbigen In-eins-sein von Natur und Kunst mit sich, aber in einem “Einen, in sich unterschiedenem Sein.” (en diapheron eanto)

 

2.5. Ousia:Gelassenheit:Kosmos

 

Ousia’ heißt Altgriechisch das Wesen oder An-wesen; das ist Wesen des  In-der-Welt-seins des Griechischen Daseins. Das gründete offenbar in griechischen archaischen bäuerlichen Gemein­schaften. Hesiods „Werke und Tage“ gibt darüber nicht immer in Hölderlinschen Glückseligkeit Auskunft.

 

Ihr Anwesensein schließt alles ein, was die Menschen sind zusammen mit dem, was sie nicht sind. Dasein ist dieses Zusammensein der Menschen in, mit und auf ihrem Anwesen – ungetrennt und ungeschieden in ihrer hervorkommenden und sich hervorbringenden Welt.

Hier nur ist beides zusammen im wechselweisen Hervorbringen und Hervorkommen-lassen, bzw. Wachsen in beständiger, daseiender Anwesen­heit erforderlich.

 

Hier gilt als Maß der Vollendung, dass alles Anwesende bewusster Hervorbringung durch die Gemeinschaft der Bauern sich verdankt, aber so, als sei alles von sich selbst her und frei gewachsen. Das ist aber im-selben ein Machen und Lassen. Und in dieser Weise, so verstehen wir nun den Satz des Aristoteles, „ahmt Kunst Natur nach und vollendet, was die Natur selbst nicht vollenden kann“.

Wo aber die Gemeinschaft der Bauern, verfällt auch ihr Anwesen, verfallen beide Momente desselben Daseins, die Bauern und auch ihr Land.

 

Anwesenheit ist hier im Griechischen als Kosmos, als Ordnung gedacht, als

in Eins sich fügende Anwesenheit der Erde und des Himmels, der Sterblichen und der Unsterblichen – Dionysos und Semele – Wein und Brot.

 

Genau hier liegt der Ort jener Sehnsucht, welcher, wie es scheint, noch immer offen ist und zum Heimischsein einlädt – auch noch in der Moderne: hier findet sich der Ort an dem jenes einfache Leben siedelt und wo jener Impuls entstand und entsteht, welchen die Moderne offenbar nicht verlassen will,

zu dem sie aber auch nie mehr zurückkehren kann.

Dieser Kosmos ist weit vorchristlich! Aber er ist, etwa bei Hölderlin, rein und ursprünglich neu gedacht und das geht so bis Heidegger; Hölderlin wünscht die Heimkehr an diesen griechischen-mythischen Ort, wo sich die Gottheit dem Kosmos nicht weiter entziehen muss,  vielmehr im Seienden als Ganzem anwe­send, dem Dasein sich wieder zeigen kann: Epiphanie: Sein des Seienden.

So verwirft dieses Denken das herkömmliche Christentum zusammen mit der Modern zugunsten eines ursprünglicher gedachten und ersehnten Ortes, eines Utopos.

 

“Eines zu sein mit Allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel der Menschen” lässt Hölderlin seinen Hyperion jubeln, jenes ursprüngliche und einige Dasein der Griechen wieder erinnernd. Und er entzündet in der Moderne jene brennen­de  Sehnsucht nach Heimkehr und die Hoffnung auf Wiederkunft der Gottheit. Ernst Bloch möchte das Dasein gleich ganz und gar in einem solchen Prinzip Hoff­nung gründen.

Aus Griechenland kommend, springt der Gedanke zu Hölderlin, von dort zu von Hellingrath, der die großen Hymnen Hölderlins wiederentdeckte und mit ihm in den Georgekreis und von dort zu Heidegger und in unsere Gegenwart.

 

Aber irgendwie, scheint mir, ist das von Aristoteles Gemeinte hier auf den Kopf gestellt: Wo Aristoteles die conditio humana in der Synthesis und Gleichursprünglichkeit von Kunst und Natur, Natur und Kunst im Habitus des Daseins findet, findet Hölderlin eine Synthesis und Gleichursprünglichkeit des Lebens der Gottheit und des Himmels der Menschen!

 

Nichts dergleichen bei Aristoteles:

Anwesen ist das, was im ständigen Wechsel des Seienden sich erhält und erhalten muss. Dem Anwesen zugrunde liegt hier, wie Aristoteles das nennt, die ,arche tes kineseos’, der Ursprung und Grund der Bewegung oder das Prinzip des Seins. Das hat bei Aristoteles den Namen energeia, was so viel heißt, wie das Sich-in-Bewegung-bringen, Das ist die Wirksamkeit, die Wirk-lichkeit des Seins, welche allem Seienden und Anwesenden, jeder ousia  zugrunde liegt.

 

Lateinisch hat die arche tes kineseos den Namen ,causa efficiens’  Diese Übertragung aus dem Griechischen, so scheint mir, verkürzt die arche tes kineseos auf den Effekt, auf das Produkt und lässt gerade ins Dunkel zurückfallen, was uns Aristoteles erhellen wollte –

die Bewegung selbst in ihren Modi des Werdens, als phyein und poiein – als wachsen und hervorbringen im Seinsvollzug des selben Daseins.

 

Kinai da or eromenon. Ist energeia, ist Unbewegter Beweger

 

 

III Kunst und Werk

 

1. das Werk Gottes

Aber Aristoteles kennt eine zweite, andere Weise der Kunst. Sie unterscheidet sich sehr von der eben analysierten ousia. Sie findet Aristoteles in der Gestalt des Künstlers, wie er etwa seit Beginn des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung in den Städten Griechenlands entsteht  und der eine Statue, welche er, anschauend  und erwägend sich im rohen Marmor vorstellend erblickt, aus dem Stein hervorbringt, bildet und formt: Werk um seiner selbst willen.

 

Dieser hervorbringende Habitus scheint irgendwie von der ousia, dem Gemeinwesen des Oikos emanzipiert und selbständig zu sein. Er ist tatsächlich städtisch und prima facie nicht mehr agrarisch fundiert.

 

Aber es vollendet und erhält sich das Kunstwerk nicht in der währenden Anwesenheit der Kunst des Künstlers als ihre energeia.  Vielmehr vollendet sie sich in einem, diesem Werden Äußerlichen, dem Kunstwerk (ergon). Im Kunstwerk ist der Prozess des Hervorbringens erloschen. Das Kunstwerk ist aus dem künstlerischen Tun entlassen und fortan für sich existent, steht für sich in und aus in seinem eigenen und um seiner selbst willen. Die Kunst als solche aber ist jetzt nur noch im vollendeten Kunstwerk anwesend, aber nicht mehr als Werden, sondern als Gewordenes, vielleicht in vollkommener Schönheit hervorge­brach­tes Werk. Dabei gelingt den Künstlern gerade nicht, einfach zu zeigen, was die Dinge sind, aber sie zeigen wie sie sich zu den Dingen verhalten, sie zeigen, was ihnen an ihnen besonders auffällt, was sie für sehenswert achten und was den Menschen auch auffallen soll; das gelingt ihnen darzustellen. So erfreuen sich die Menschen im Kunstwerk nicht allein an dem was sie unmittelbar sehen, sondern es zeigt sich an ihm etwas darüber hinaus: das Ereignis des Schönen. Und je mehr der Künstler, seine Kunst entäußernd, in sein Werk hineingelegt hat, umso reicher werden das Werk und die Freude der Menschen sein. Wenn sie dies alles wieder im Ereignis des Schönen erfahren und in seiner Wahrheit entdecken, werden sie den Künstler preisen und weithin rühmen.

 

Der christliche Gott wird als Creator mundi, als Schöpfer der Welt, als ein solcher, gleichsam aristotelischer, Künstler vorgestellt, der am siebten Tage, nach vollendeter Schöpfung ruht und sein vollendetes Werk betrachtend findet, ”und siehe, es war wohlgetan”. So kann er sich, anders als die frühen griechischen Götter, zurückneh­men, sich seinem Werk entziehen und die geschaffene, existierende Welt, sich selbst überlassen. “Vater, warum hast du mich verlassen?” fragt daher der Mensch gewordene Gottessohn, angesichts seines unausweichlichen Seins – sterblich zu sein, getrennt und verlassen vom sich entziehenden unsterblichen Gott.

 

So entsteht, was Friedrich Nietzsche spöttisch Hinterwelt nannte. Eine Welt, die hinter der sichtbaren verborgen ist.

Nicht beteiligt am Hervorgang, des Schöpfens sind die Menschen Teil des Geschöpften Werkes von der Genese abgeschnitten und getrennt.

Alles was den Menschen bleibt, ist das göttliche Werk selbst, seine vergängliche Existenz, die im Unterschied zur einer dahinter verborgenen ewigen, wirklichen Wirklichkeit göttlichen Seins, das ihnen transzendent, also jenseits und entzogen ist.

 

Dies Werk wie ein Geschenk anzunehmen und es ad maiorem gloriam dei, zum höheren Ruhme Gottes, zu erkunden, nachzuahmen, sich an seiner Schönheit zu erfreuen, seine Nütz­lichkeit zu genießen. Und auch an der vollkommenen und schlechthin notwendigen Ordnung des Werkes, welche sich der Weisheit und Güte Gottes verdankt. Diese Ordnung kann die Mensch wie Augustinus sagt, allein an göttlicher Erleuchtung teilhabend erkennen, als Offenbarung.

 

Das ist es, was ihm bleibt, „ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen, ja ohne von den anderen Teilen dieses Betriebs und ihrem Zusammenwirken zu dem Zweck des Ganzen eine Vorstellung zu haben. Er ist ein dienendes Werkzeug (der Gesell­schaft), nicht ihr mitgestaltendes Organ.“ Ach, was ist mir denn da reingerutscht? Das war ja ein anderer Text, der von Dilthey – nun ja!

 

Noch bis ins hohe christliche Mittelalter und weit darüber hinaus erhielten sich diese Auffassung und der darin waltende, mittelalterliche wissend-technische Habitus.

 

Anders als die Griechen, denen alles eins und anwesend war, die Erde und der Himmel, die Sterblichen und die Un­sterb­lichen, konnte dieser christlich-mittelalterliche Habitus lediglich entdecken, was die an sich für Den Menschen un­er­kennbare, gottgeschöpfliche Natur den Menschen verbarg, gleichwohl für sie bereit hielt.

Alles, was der Mensch mit Bezug auf die Natur tun konnte war, dass er jene verborgenen Schätze fand, welche Gott in sie gelegt hatte und sie entbergend zu bergen und anzunehmen. Und tatsächlich sind das Bergwerks- und Hüttenwesen technische Höhepunkte mittelalterlicher Industrien.

 

3. Unterschiedlicher Habitus des Erkennens in Mittelalter und Neuzeit: acceptio und suppositio

Annehmen (acceptio) wie ein Geschenk und Entdecken, was dabei zu finden ist, beschreibt diese wissend-technische Haltung des christlich-mittelalterlichen Menschen zur Natur; mit ihr findet sich das achtsame, empirisch genannte, Beobachten des Seienden. Ihm erschließt sich was den Dingen eigen ist, was sich bei ihnen selbst sichtbar und fassbar vorfindet und erscheint. Das sind die Eigenschaften der Dinge wie sie sich bei ihnen selbst vorfinden, zeigen und in seinen Beschaffenheiten den Menschen handgreiflich entbergen im eignen, gegenständlich-tätigen Zusammenspiel des Hervorkommenlassens und Hervor­bringens.

Occhams rasor waltet hier das Wissen der Menschen vielfältig anreichernd und im Reich der analytischen Urteile im Sinne Kants erschließt sich die unermessliche Vielfalt der Eigenschaften der Dinge lässt ihre Beschaffenheiten hervorkommen und eröffnet dem Habitus acceptio den ganzen Reichtum dessen, was in den Dingen schon enthalten ist.

Hinsehen, genau beobachten, unterscheiden und annehmen, was sich sichtbar und fassbar zeigt, macht diesen Habitus des Entdeckens aus und er vollzieht sich in direkter Vermittlung von Mensch und Natur. Seine Grundhaltung ist mimesis, Nachahmung.

 

Das Erfinden, im Unterschied zum Entdecken, dem entbergenden bergen, also das hervorbringende Schaffen von etwas ganz Neuem, seine freie Setzung, konstruktive Realisierung und sein Verfügbar­machen ist erst ein Habitus der Neuzeit. Seine Grundhaltung ist poiesis, Hervorbringen.

 

Aber er ist bereits im Mittelalter vorbereitet worden:

1.    eröffnet die Vorstellung einer verborgenen, wirklichen Welt hinter der sinnlich direkt vermittelten Wirklichkeit die Möglichkeit, genau die Frage zu stellen, was denn die Prinzipien und Kräfte sind und wie sie wirken im Hervorbringen des sicht- und beobachtbaren Ganzen. Solche Fragehaltung liegt dem Newtonschen Gravitationsgesetz über den Zusammenhang und die Bewegung der Planeten.

2.    Im Nominalismus eröffnet William Occham eine Art ontologischer Differenz. Nämlich die Unterscheidung der Allgemeinbegriffe als voces oder Vorstellungen und den sinnlich beobachtbaren Dingen als Tatsachen. Also die Unterscheidung zwischen Vorstellungen und Tatsachen. Sie ermöglicht nun auch, über Dinge nachzudenken und zu erkennen, die den Sinnen verborgen, aber dennoch als da seiend vorgestellt und angenommen werden müssen. Allgemeinbegriffe, wenngleich nur als Worte oder Vorstellungen existierend, können für solche vorgestellten Dinge stehen.  Sie supponieren für sie, sagt Occham. Die Erkenntnishaltung wird hier zur suppositio.

Das Wort Gott supponiert für ein solches vorgestelltes Dasein.

Das Wort Gravitation steht für ein ebenso vorgeselltes Dasein.

Die Existenz, das Dasein der Schwerkraft selbst kann ebenso wenig sichtbar und fassbar gemacht werden wie die Existenz Gottes.  Die Ontologie, die Lehre von der transzendenten, nicht sichtbaren, aber als wahr und wirklich angenommenen Ordnung der Welt und des Daseins zerbricht. Im 15. Jahrhundert wird der Nicolaus von Kues die Welt als unendlich-endliches Funktionengefüge denken können.

 

Da ist nichts mehr einfach zu beobachten. Die Schwerkraft selbst hat noch niemand beobachtet, nur gewisse beobachtbare Erscheinungen, welche  als ihre Wirkungen angenommen werden, nämlich die Bewegung der Planeten lassen sich beobachten. Aber warum soll man sie als Wirkungen einer nicht beobachtbaren Kraft verstehen? Die Schwerkraft selbst kann nämlich nicht in derselben sinnlichen Weise als existierend gezeigt werden. Sie entzieht sich der Wahrnehmung. Sie muss lediglich als existierend angenommen werden. Aber nicht mehr im Sinne der ,accaptio’ sondern im Sinne des Unterstellens, der ,suppositio’.

Der Begriff Schwerkraft supponiert für eine nicht sichtbare und fassbare, eine den Sinnen verborgene arche tes kineseos, eine causa efficiens der Planetenbewegungen.

 

 

Eine solche Wahrheit wird assertorisch genannt. Sie ist eine, welche die Existenz von etwas behauptet, dessen Gegensatz, die Nicht-Existenz ebenso als möglich behauptet werden kann.

Aber im Unterschied zur Existenz Gottes, an die geglaubt werden kann ist es hinsichtlich der Schwerkraft ganz anders. Hier kann nur gesagt werden, wie ihre Größe zu berechnen und gemäß der mathema­tisch-physikalischen Annahmen in einer Mess­anord­nung hergestellt und in den Veränderungen ihrer Erscheinungen gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, für die Gravitation zuerst mit dem Auflassen, wie man damals sagte, eines künstlichen Erdtrabanten, dem Sputnik 1956 geschehen. Er ist ein materiell-gegenständliches Modell der Gravitationstheorie.

 

Wie die Schwerkraft selbst in ihrem Wesen geschaut werden kann, hat ihren Entdecker Isaak Newton bis ans Ende seines Lebens beschäftigt. Niemals verließ ihn die Frage, was die Substanz der Gravitation sei. Er ist darüber zum Alchimisten geworden.

Die Existenz der Schwerkraft selbst kann ebenso gezeigt werden wie die Existenz Gottes.

Aber Galilei hat der Herstellung einer Anordnung in der sich die Schwerkraft zwar nicht selbst zeigt, aber in einer ihrer Daseinsweisen, der Bewegung des freien Falls hervorgebracht und hergestellt und gemessen werden kann, einige Gedankenarbeit gewidmet, wiewohl man heute annimmt, dass es zu solchen Experimenten nicht gekommen ist.

 

3. Die Umwälzung der Naturbeziehung

 

Der Übergang von der Annahme im Sinne der ,acceptio’ zur spekulativen Annahme im Sinne der ,suppositio’, der hier vorliegt, verändert das Naturverhalten des neuzeitlichen Menschen vom sinnlich direkt vermittelten, entdeckenden Entbergen und ihrer mimetischen Grundstruktur zum begrifflich indirekt vermittelten, erfindenden Konstruieren, also ihrer poietischen Grundstruktur.

Vor der Renaissance und dem Cinquecento war das nicht vorstellbar.

 

Der Habitus des Erkennens stellt sich um von mimesis auf poiesis, von Nachahmen auf Hervorbringen.

 

Mehr noch: Das aristotelische Beziehungsgefüge techne/poiesis/physis ist zerfallen. Techne/poiein ist befreit aus der Beziehung der gleichursprünglichen Einheit Kunst – Na­tur.

 

“Natur” wird – ganz anders als bisher und völlig neu – zum supponierten Gegenstand der wissend-technischen Erkenntnisproduktion und schließlich zum Rohstoff der technischen Produktion. Techne/poiesis, Hervorbringen allein, für sich, wird nun selbstbezügliches medium seiner selbst. Darin bleibt techne ein Wissen. Es gewinnt die Gestalt der neuzeitlichen Wissenschaft.

Das von ihr Hervorgebrachte ist nicht mehr Natur im Sinne von physis im griechischen Sinne, sondern der besonderen Art wissenschaftlich-technischen Hervorbrin­gens  entspre­chen­­­des, äußerliches wissen­schaftlich-tech­nisches Produkt. Es ist “Werk” im aristo­tel­­ischen Sinne (gr.: ergon).

 

4. Veränderung des Begriffs Natur

 

Damit verändert sich in der Neuzeit auch grund­legend die Bedeutung des Wortes Natur: Sie verwandelt sich von physis in ergon, vom Gewachsenen in ein gemachtes Werk.

Die ursprüngliche Einheit von techne/poiesis/physis wird neuzeitlich zur Einheit von techne/poiesis/ergon.

Die ursprüngliche Einheit von Hervorbringen und Hervorkommen-lassen verkürzt sich zum reinen Machen, dem Herstellen eines Werkes.

 

Es ist Galileo Galilei, der, so weit ich sehe, als erster diese bis heute selten erkannte  Vertauschung vornimmt, den Austausch von physis durch ergon, nämlich die Ersetzung des Gewachsenen durch das Gemachte.

Das gelingt ihm bei der Erforschung des Gesetzes vom freien Fall durch eine philosophische Auseinandersetzung mit der von Aristoteles her überlieferten Auffassung des natürlichen Ortes. Der jeweils als eine wesensmäßige Beschaffenheit der Dinge aufgefasst. Das Leichte steigt nach oben, das Schwere steigt ab. Hier geht es nun um eine andere Bewegungsart als die vorhin untersuchte, die des Werdens, hier geht es um die Ortsbewegung.

Galilei fragte hingegen nicht nach dem Wesen der Bewegung, der, Washeit’ der Bewegung als solcher, wie es seit langem üblich war. Galilei verwarf diese Art des Fragens überhaupt und damit die mittelalterliche Metaphysik und Ontologie.

Vielmehr analysierte er und zerlegte die Bewegung. Er setzt sie mathematisch-analytisch als zusammengesetzt voraus. Er zerlegt sie in zwei ihr offenkundig zugehörigen Eigenschaften: Die Strecke, welche ein Körper zurücklegt und die Zeit, die er dafür braucht. Beiden Eigenschaften ist gemeinsam, mathematisch als reine Ausgedehntheit, als Dimension, gedacht zu werden, die für diese Eigenschaften supponieren. Aber sie unterscheiden sich in ihren Modi: Das sind hier die verschiedenen Arten, wie sie gemessen werden können, als Dimension ‚Raum‘ und als Dimensionen ‚Zeit‘. Dimensionen bezeichnen also messbare Eigen­schaften, aus denen die Bewegung zusammengesetzt werden kann: Analyse – Synthese.

 

Es ist hier zu bemerken, das Raum und Zeit schon bei Galilei allein durch einen Habitus, ein intelligentes Verhalten definiert sind, die Tätigkeit des Messens.

Raum und Zeit haben schon bei Galilei eigentlich keine ontologische Qualität mehr nicht erst bei Einstein. Raum und Zeit sind dadurch definiert, dass sie gemessen werden können.

Dabei verwirft Galilei die aristotelische Auffassung wesensmäßig verschiedener natürlicher Orte und verschiedener Zeiten im Sinne eines “alles hat seine Zeit”, welche die Dinge ,an sich’ hätten.

Allein aus der Notwendigkeit der Messung unterstellt Galilei gleichsam ontologisch die Existenz eines Raumes und einer Zeit, welche die Eigenschaft der Zählbarkeit ihrer Teile annimmt: die haben nämlich beide gemeinsam; es sind dies die analytisch letzten, nicht mehr unterscheidbaren oder auf Anderes zurückführbaren Elemente aus denen die Dimensionen auch wieder zusammengesetzt werden können.

 

Galilei unterstellt daher Raum und Zeit selbst als zusammengesetzt und zwar aus unendlich kleinen, unteilbaren Teilchen, den “indivisibili”. (Nenbei: Auf Griechisch heißen solche Unteilbaren atomos, und finden ihren Weg als Atom in die Chemie. Lateinisch heißt das individuum, ein Individuum ist daher alles andere als eine einzigartige Person, im Reichtum seiner allseitig entwickelten Eigenschaften. Im Gegenteil: es ist ein Abstraktum, abgezogen von allem, was diesen Reichtum ausmacht, bis auf die eine Eigenschaft, unteilbar, indivisibel zu sein.)

 

Diese Vorstellung des Indivisibliums entlehnte er dem zeitgenössischen Mathematiker Cavalieri. Der vertrat die Auffassung, geometrische Figuren ließen sich in, ihnen zugrundeliegende Unteilbare, ,indivisibili’, analytisch zerlegen und aus ihnen synthetisch wieder konstruieren. Danach ist das Indivisible eines Körpers die Fläche, das Indivisible einer Fläche ist die Linie und das der Linie ist der Punkt. Ebenso verfährt Galilei mit den Dimensionen Raum und Zeit. Auch sie ist als aus indivisiblen Zeitteilchen und Raumteilchen zusammengesetzt vorgestellt. Dreierlei ist bemerkenswert:

1.    Wir erkennen die aristotelische analytisch-synthetische Methode als mathematische Methode.

2.    Wir erkennen die poiesis, den vollständig anderen Habitus der neuen Erkenntnisart gegenüber der mittelalterlichen Erkenntnisart, der acceptio.

3.    Wir erkennen: diese Erkenntnisart folgt der Occhamschen ontologischen Differenz zwischen begrifflicher Vorstellung und sichtbarer und fassbarer Tatsache.

 

Hier wird Erkenntnis für die Neuzeit auf einem völlig neuen Weg gewonnen, der ,metodo risolutivo’ und der ,metodo compositvo’, welche eine gegebene Sache als zusammengesetzt, als konstruiert annimmt und sie begrifflich in diese Teile oder Glie­der zerlegt und daraus wieder zusammensetzt.

 

Mit Hilfe des analytischen Begriffs des Indivisiblen  kann Galilei einem beliebigen indivisiblen Zeitpunkt einen eindeutig dazugehörigen indivisiblen Raumpunkt mathematisch zuordnen. Die gleichförmig beschleunigte Bewegung wird aus einer Menge aufeinander folgender unendlich kleiner, unteilbarer, geordneter Paare von Raum- und Zeitpunkten zusammen gesetzt vorgestellt.

 

 5. Neuzeitliche Ontologie oder was?

 

Auf diese, wohlgemerkt philosophische Weise, gewinnt Galilei – so scheint es – die Seinsauslegung der Neuzeit als den Horizont des Ausgedehnten, des Mess- und Berechenbaren.

Mit seiner ausführlichen Beschreibung einer experimentellen  Anordnung, der berühmten “Fallrinne” sowie sei­nen wiederum philoso­phi­schen Überlegungen, über die Wesensgleichheit einer Fallbewegung und der Bewegung, die eine Kugel auf einer schiefen Ebene in der “Fallrinne” vollzieht. Er erkennt sie als eine verlangsamte Fallbewegung. So gewinnt er den besonderen Horizont nicht des Seins überhaupt sondern allein den der Physik. Auch wenn man heute annimmt, dass Galilei diesen Versuch selbst nie durchgeführt hat, sondern wie später bei Albert Einstein, als ein Gedankenexperiment.

Galilei, so wird gesagt, lege damit den Grund der neuzeitlichen Ontologie: Nämlich die Auslegung des Seins in verschiedene Dimensionen seiner Messbarkeit und Berechenbarkeit; als seine mathematisch-physikalische Aus- und Vorhersagbarkeit sowie seine mathe­ma­tisch-physikalisch-technischen Herstellbar­keit als materiell-gegenständliche Messanord­nung, schließlich als physikalisch-technisches System, als Werk.

Dieser Ontologie entspreche eine vollständig neue Methode, die der Analyse und Synthese, eine vollständig neue Mathematik, die Infinitesimalrechnung, die allerdings erst von Newton und Leibniz als Rechentechnik ausgearbeitet wurde, und eine völlig neue Auffassung der Wirklichkeit, der zufolge nur “wirklich ist, was berechenbar und messbar ist” (Max Planck). Aber in dieser Allgemeinheit kann das nur der Physiker sagen und nur für die Physik

 

Das ist so bis heute. Die Physik behauptet und unterstellt das Künstliche als das Natürliche, allerdings ohne das noch im philosophischen Horizont eines Galilei oder Newton denken zu können. Sie unterscheidet nicht mehr zwischen dem, was physei ist, also von selbst wächst und dem, was thesei ist, also von den Menschen gesetzt wird und werden muss, dem Nomos, der Ordnung der Natur. Vielmehr behauptet die Physik die Natur als das Gesetzte, als, wie sie richtig sagt, aber oft falsch denkt, als das naturgesetzliche. Sie setzt gleichsam den Nomos der Natur, sein Grundgesetz ist die Kausalität. Der Philosoph Immanuel Kant aber sagt das nicht nur richtig, sondern denkt es auch so, wenn er sagt, was im Horizont der neuzeitlichen Physik nun für die Neuzeit Natur heißt: “Natur überhaupt” ist “Gesetz­mäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit.” (KdrV B 165), und: ”Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es (das Dasein) nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.” (Prolegomena, §15). Das jedoch gilt allein für die Wissenschaften.

 

Die Weise des Setzens aber ist am Vorbild der Physik gebildet.

Es ist Machen im Sinne des lateinischen facere, ist Hervorbringen, im Sinne des lateinischen producere. Es ist das Hervorbringen eines ,idealen’ physikalisch-mathematischen Gesetzes zusammen mit seiner gegenständlichen Realisierung im Experiment oder in einem entsprechenden physikalisch-technischen Mechanismus.

Das ist Erfahrung im Unterschied vom Empfinden und Wahrnehmen im Kantischen Sinne: synthetisches Urteil a priori. Es synthetisiert und verbindet mathematische Begriffe die sie a priori bildet, mit den eindeutig dazugehörigen Wahrnehmungen, welche sie a posteriori in der Erfahrung bilden kann.

 

Mathematisch-physikalisches Gesetz und die ihm zugehörige pysikalisch-technische Anordnung, mittels welcher das im Gesetz ausgesagte tatsächlich als beobachtbares Phänomen hervorgebracht, gezeigt und in seinen vom Gesetz ausgesagten Eigenschaften gemessen wird, gehören unauflösbar zu­sam­men. Nur und aus­schließ­­­lich als dieses konkrete Zusammen­sein ist die Physik wirklich Physik.

 

Aber damit hört Physik auf, Ontologie zu sein. Die Auslegung des Seins überhaupt im Horizont des Messbaren und Berechenbaren ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Sie ist selbst ein Reduktionismus.

 

Als  etwas Hervorgebrachtes entspricht das Experiment nicht irgendeiner, wie immer vom Bewusstsein unabhängigen oder romantischen Natur, sondern es entspricht dem, im mathematisch-physikalischen Gesetz. Es ist Werk im Sinne des Aristotelischen ergon.

 

Das physikalische Gesetz ist, wenn man so will und platonisch denkt, die ,idea’, die, wie das seit Renée Descartes heißt, ,res extensa’. Sie ist das Ur- oder Vorbild, das Experiment hingegen, bzw. der Mechanismus, ist sein vom Physiker hervorgebrachtes gegenständ­liches Abbild, welches auf geheimnisvolle Weise an der idea im Sinne einer Koinonia teil hat. Diese Haltung kann das Tun eines Physikers gar nicht verstehen.

Aber im Unterschied zu der seit Paton bis auf Descartes und zuweilen bis heute vorherrschenden und im genauen Sinne metaphysische Gegenüberstellung von Idealität und Realität, denen, allerdings sehr ungenau gedacht, die Begriffe Theorie und Praxis entsprechen sollen, Erweist sich Physik, genau gedacht, als mathematisch-physikalisch-technisches Hervorbringen eines künstlichen Werkes im Sinne des Aristoteles, als Einheit von techne/poiesis/ergon.  Die Kategorienverwechselung von Natur und Kunst, von physis uns ergon führt nun  zu allen möglichen Verwirrungen und Problemen. Denn nicht allein die Physiker verwechseln Kunst mit Natur, sondern viele verwechseln  das Natürliche mit dem Künstlichen.

 

Seit Galileis “Buch der Natur”, welches gleichsam den Nomos der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben versteht, ist Natur als mathematisch-technisches System vorgestellt. Daher durchzieht die ganze Naturwissenschaft bis heute etwas Technisches, wo es in der wissenschaftlichen Gentechnik oder anderen Biowissenschaften unmittelbar sinnfällig zu werden beginnt. Bei allen Variationen des Themas wird die Kategorienverwechselung in der Physik zur Verwechselung von Werk und Natur überhaupt. Es ist die Verwechselung der Natur mit Technik, im Sinne eines ins Werk gesetzten Werks. Physik ist ontologisch gesprochen, Technisierung der Natur.

 

Die von selbst wachsende Natur wird neuzeitlich umgemünzt zum technischen Nomos ihrer Machbarkeit. Allein das medium Wissenschaft/Technik/Werk wird neuzeitlich, selbstbezüglicher Ursprung, Ziel und Maß seiner selbst. Nichtmenschliche und  menschliche Natur im Sinn des griechischen physein haben sich diesem medium bis zur Unterwerfung anzugleichen, gefügig zu machen und bis zum überflüssig werden zu entsprechen. Den Rest – wie es aussieht –  regelt der Markt.

 

Und allein in diesem Verständnis der mathematisch-physikalischen Technisierung der Natur, ganz und gar kantisch, vollzieht sich auch das Denken des eben zwanzig­jährig­en Marx der “Pariser Manuskripte” von 1844, wenn er sagt: “ Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissen­schaften zum Menschen; wird sie (die Industrie) daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefasst, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden.” MEW, Erg.Bd. I, S. 543

 

Na hört sich das nicht doch ein wenig an wie bei Aristoteles in der hochgestimmten Rede Hölderlins?

Einheit, Synthesis von Kunst und Natur in ihrem Hervorkommen lassen und Hervorbringen – die vollständig im Seinsvollzug des Dasein des Künstlers aufgehen, nur dass der Künstler nicht mehr Künstler ist sondern zum Wissenschaftler mutiert. So ist es.

Das menschliche Wesen der Natur oder, was das selbe ist, das natürliche Wesen des Menschen dürfen wir als den Begriff der Natur verstehen, wie ihn Kant in den Prolegomena §15 gegeben hatte. Ich wiederhole: “Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.”. Das sind die Gesetze der Naturwissenschaften. Und die “esoterischen”, d.h. die innerlichen, verborgenen menschlichen Wesens­kräfte, welche sich  exoterisch,  d.h. äußerlich, als ihre unver­borgene Enthüllung, in der Industrie entbergen, erweisen sich als der wachsende Fundus dieser “allgemeinen Gesetze”.

Das ist Wissenschaft des Typus mathematisch-physikalischer Wissenschaft im eben entwickelten Sinne des geistig und materiell gegenständlichen Hervorbringens eines Werkes. Dabei legt allein das allgemeine Gesetz vorab, a priori, fest, was als Gegenstand zu gelten hat.

Denn wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft, also dem, was er im Unterschied zur praktischen Vernunft ratio nennt, erkennt, sind “die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zu­gleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben da­rum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori.” Kant K.d.r.V., A 258, B 197

Und man kann sagen, Kant erkennt anders als Descartes wissenschaftliche Erkenntnis des Typus Physik sehr angemessen, nämlich als intellektual-gegenständliche Produktion synthetischer Urteile a priori zusammen mit ihrem als Experiment hervorgebrachten gegenständlichen Modell. Ohne das ist Physik nicht Physik sondern irgendwas: Gerede oder Diskurs, wie man heut gern sagt. Und in diesen Diskurs rettet und verbirgt sich noch immer Ontologie.

6. Descartes Ontologie der mathesis universalis

 

Das zeigt sich in der Auffassung René Descartes,  der eben nicht Physiker ist, sondern Mathematiker. Der ist Zeigenosse Galileis;  möchte, begeistert von der mathematisch interpretierten analytisch-synthetischen Methode, der ein eigenes Werk gewidmet hat, und überzeugt davon, ein universales Mittel zur Beschreibung der Welt zu besitzen ein großes Buch mit dem Titel „Le Monde“ zu schreiben, welche die Welt allein in der Sprache der Mathematik beschreibt. Nach Galileis Prozess und eigener Verfolgtheit hat er davon abgesehen.

Aber ein anderer Grund wird auch eine Rolle gespielt haben. In einer solchen Welt in der alles mathematisch determiniert ist, hat Gottes wille keinen Platz.

 

Für Descartes gründet wissenschaftliche Erkenntnis selbst in einer Auslegung des Seins als idea, diese zerlegt in res cogitans und  res extensa als ausgedehnte Sache und letzte wiederum noch einmal zerlegt in die Dimensionen  Raum und Zeit, welche aus indivisiblen Raum- und Zeitteilchen zusammengesetzt gedacht und vorgestellt wird.

Die res extensa ist nicht, wie häufig und in der Regel angenommen, objektive dingliche Allheit des Seienden die der res cogitans, der denkenden Sache, dem menschlichen denkenden ,Subjekt’ gegenüber steht, sondern sie ist schon bei Descartes ein unterswchiedener Modus des einen cogito, des ,ich denke’.

Res cogitans und res extensa sind zu verstehen als die für Descartes vorstellbaren Selbstauslegungen des ,cogito sum’ als universelles Denkvermögen, als ,ratio’ einerseits und als mathesis universalis andererseits. Das erst ist Ontologie der Neuzeit.

 

Das  Sein als solches im Ganzen; das ist Ontologie der Neuzeit: Mathesis universalis nicht Physik.

Aber wenn Physik allein theoretish, d.h. mathematisch verstanden wird, hört sie auf, Physik zu sein,  wird sie zu einer physikalisch interpretierten mathesis universalis.

 

Tatsächlich vollen­det die Physik, die noch heute Prototyp aller Wissenschaften ist, nicht die Metaphy­sik, sondern naturalisiert sie. Aber sie bleibt gleichwohl, philosophisch gesprochen, Metaphysik. Das aber heißt, die Physik tritt an die Stelle der alten Metaphysik. Damit wird prinzipiell das Seiende als solches im ganzen dem Machtbezirk der mathematischen Physik unterworfen, als dem Sein alles Seienden.

 

Das meinte Martin Heidegger, wenn er seinsgeschicht­lich die neuzeitliche, mathematisch-physikalische Technik als die letzte metaphysische Aus­le­gung des Seins und ihre Wahrheit als Wesen des Willens zur Macht erkennt. Physik als Technisierung der Natur und Naturalisierung der Metaphysik ist, so gedacht, das metaphysische Wesen, die Essenz aller Existenz, des Seins alles Seienden.

 

Das ist vielfach in der Vergangenheit beobachtet und z.B. unter dem Titel der Technikförmigkeit der Wissenschaften’, einer irgend­wie geheimnisvollen und über­mächtigen ,Eigendynamik der Technik‘ diskutiert worden, oder unter dem Titel der ,Herrschaft der Mechanisierung‘, oder unter dem der bedrohlichen und nicht kalkulierbaren, unbeabsichtigten Nebenfolgen, gleichsam den technischen “Kollate­ral­schäden”, oder der Unterwerfung alles Seien­den unter die ,Herrschaft des Messens und der Rechenhaftigkeit‘, ohne in seinem metaphysischen und ontologischen Status gedacht zu werden.

 

Technik ist, seinsgeschichtlich verstanden, ein Prozess ohne Ziel und ohne Subjekt, wie der französische Philosoph Louis Althusser einmal Geschichte charakterisierte. Sie ist ein Geschick; ein Geschick der Wahrheit des We­sens des Willens zur Macht, eines, das uns von der aus der Vergangenheit herkommenden Metaphysik in der Überlieferung geschickt worden ist. Gleichsam mit den vielen Briefen von fernen und vergangenen Freunden. Ich bitte um Vergebung, aber diese letzten drei Sätze finde ich gar nicht gut. Die Gleichsetzung von Technik und Geschichte hat etwas Gewalttätiges, die Nennung des Namens Althusser wirkt irrtierend, das Hineinmengen der heideggerschen Ausdrücke „Geschick“ und „geschickt worden ist“ ist das Gegenteil von Würze und die Sache mit den Briefen total unnötig, auch wenn man wohl an den Humanismusbrief und an den bekannten Antwortbrief erinnert werden soll. Mit einem Wort: dieser Schluß macht (fast) alles wieder zunichte, was der Autor auf den vorhergehenden Seiten (ab etwa S. 4)  so schön und eingängig entwickelt hat. Und das ist doch eigentlich schade!

Mittwoch, 26. Februar 2003

 

Marx 1.

 

Nebenbei: Die durch Marx vorgenommene Identifizierung der „Arbeiterklasse“ als Akteur des gesellschaftlichen Stoffwechsels des Menschen mit der Natur, so fasste er das Wesen der gesellschaftlichen Arbeit zunächst noch als biologischen Prozess, war vielleicht noch sehr an den Produktionsweisen der agrarischen Gemeinschaften ori­en­tiert. Er scheint da der ökonomischen Theorie der Physiokraten gefolgt zu sein. Für sie war die fruchtbare Erde erste und einzige Produktivkraft. Und auch die Arbei­ter­klas­se als Produzentenklasse, als das Subjekt, des Stoffwechsels des Menschen mit der Natur, war wohl noch sehr physiokratisch gedacht.

 

Marx beobachtete aber schon genau die fundamentale Rolle der Wissenschaften für die seinerzeit noch neue kapitalistische Industrie und bestimmte sie als ‚allgemeine Arbeit‘, im Unterschied zur einzelnen Arbeit, auch wenn er das Konzept nicht wissenschafts- und techniktheoretisch ausarbeitete. Aber im Unterschied zu den Physiokraten faßte Marx schließlich die Erfindung und Erzeugung neuer Gegenstände und Verfahren, gleichgültig, ob im Erfahrungswissen der kunstfertigen Handwerker oder im physikalisch-technischen Wissen der Ingenieure gegründet, als „gesell­schaftliche Produktivkräfte“, das sind jene „esoterisch/exoterischen Wesens­kräfte“ des gesellschaftlichen Menschen. Gesellschaftliche Produktivkräfte sind für Marx essenziell wissenschaftlich-technischer Art. Dabei versteht er Produktion, im Unterschied zu Arbeit in völliger Übereinstimmung mit der neuzeit­lichen Überliefe­rung als hervorbringendes Tun, in der Einheit von techne/poi­ein/ergon.. Mehr, aber auch nicht weniger, sagt das “berühmte Zitat“ (Althusser) von Marx über das menschliche Wesen der Natur und das natürliche Wesen des Menschen nicht. Dem jungen Marx mag dabei ein Gesellschaftszustand vorgeschwebt haben, wie er aus der Antike überliefert war, wo die freien und gleichen Polisbürger nur solche Personen sein konnten, die frei waren von der ‚oikonomia’, dem Reich der Notwendigkeit und in welchem die antiken Sklaven in Zukunft ersetzt werden durch die wissenschaftlich-technischen Automaten der Industrie, verstanden als exoteri­sche Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte.

 

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte sollte nämlich, nach Marx, geschicht­lich Zwiefaches leisten: Zuerst die Befreiung der Menschen von den Notwendigkei­ten, Beschränkungen und Wechselfällen der, wie ersagte, ‚rohen’ Natur. Bezogen auf den Men­schen ist das die Befreiung von der unmittelbaren Arbeit als  medium der Lebenser­haltung und ihre Ersetzung durch wissenschaftlich-technische  Industrie.

Schließlich, durch ihre Entwicklung und Entfaltung erzwungen, die Sprengung der Fesseln, in welche, wie Marx fand, das System der „Selbstver­wertung des Werts“ in der seinerzeit gerade beginnenden Herrschaft der kapita­listischen Produktions­verhältnisse, die freie Entfaltung der gesellschaftlichen Produk­tiv­kräfte geschlagen hatte.

Wissenschaftlich-technisches Wissen, erkannte Marx, werde zur ersten Produktivkraft werden und die natürlichen Produktivkräfte der Menschen und der Erde auf einen der hinte­ren Plätze verweisen.

 

Das aber, was er als Arbeiterklasse, als industrielles Proletariat bezeichnete, und was in der marxistischen Überlieferung soteriologisch zum Erlöser, zum revolutionären Subjekt hochinterpretiert wurde, erkannte er als der Industrie unterworfen und ihren technischen Erforder­nissen angeglichen, angepasst und gefügig gemacht.  Er erkannte die Arbeiter als „Anhängsel der Maschinen“, welche die Maschinen bedienen. Er erkannte die Arbei­ter als einfache Träger unspezifischen, „reinen Arbeitsvermögens überhaupt“, gar entpersonalisiert als „Arbeit sans phrase“, weil alles Wissen und technische Geschicklichkeit, alle ’techne’ nicht mehr den Arbeitern zu eigen war, sondern den wissenschaftlich-technischen Maschinensystemen eignete, als im Industriewerk vergegenständlichte exoterische Enthül­lung der menschlichen Wesens­kräfte.

 

Das wissenschaftlich-technische Maschinensystem nennt Marx einen „Automaten“, das ist ein selbsttätiges Produktionssystem. Das hielt er in seiner Genese genau dann für vollendet – jedoch noch nicht für vollkommen – wenn Maschinen durch Maschinen produziert werden können – gleichsam in einer fast evolutionären Perspektive der Selbstgenerierung. Automaten sind dann von jeglicher Geschicklichkeit kunstfertiger menschlicher Handwerker und pfiffiger Tüftler emanzipiert und allein das Werk  wissenschaftlicher Rationalität konstruierender technischer Ingeneure.

 

Die unter dem Titel „Automat“ verstandene wissenschaftlich-technische Industrie wird für Marx zum eigentlichen Akteur der gesellschaftlichen Produktion und die „freie Gesellschft“ erscheint als riesiges wissenschaftlich-technisches System. Und die wissen­schaft­lich-technische Intelligenz kann sich geschichtlich aufblähen zum „maître et pos­­ses­­seur de la nature“(Descartes), zum Herrn und Besitzer der Natur, dabei allerdings verkennend, dass ihnen Natur (physis) längst zum Werk (ergon) verkürzt und geronnen ist.

 

Gleichwohl wollte, und das soll ihm zu Marx mit jenen Kommunisten nichts zu tun haben, „die auf die Zerstörung der individuellen Freiheit und die Errichtung eines weltweiten Kasernenhofes, eines gigantischen Arbeitslagers aus sind.“ (Karl Marx, in: Communist Journal, London, September 1847; Abgedruckt im Anhang der Rajzanov-Ausgabe des „Kom­mu­nis­tischen Manifest“ (1930), Fundstelle:Melvin J. Lasky, Utopie und Revolution, Reinbeck bei Hamburg, 1989, S.15)

 

Industrielle Revolution 1: Von solchen Basisinnovationen oder industriellen Revolutionen können wir in Deutschland und in der Welt drei unterscheiden und beobachten. Die Industrielle Revolution, die Elektrotechnische Revolution und die aktuelle, die mit der Halbleitertechnik zusammen sich entwickelnde Kybernetische Revolution.

Sie beruhen immer auf einer Revolution des Wissens, das zusammen mit dazu passenden Herstellungstechniken neue Industrien entstehen lassen.  Und sie geschehen von Anfang an global, weltweit.

 

 

INDUSTRIELL Revolution II: Dieser gleichsam industrialisierte Blick verdeckt aber auch die Sicht auf das grund­erschüt­ternde Ausmaß und die Tiefe des Umbruchs, der damals in ganz Europa geschah. In der Erinnerung ist er verblasst, vergessen. Ja, im Horizont des Industrialismus kann er vielleicht auch gar nicht richtig wahrgenommen werden – blendet der Fortschritt doch zu sehr den klaren Blick, bildet seinen eigenen blinden Fleck.

Wir wollen daher versuchen, aus dem Blickpunkt eines Beobachters 2. Ordnung einen Standort zu  finden, in dem sich dieser vorvergangene Horizont vielleicht noch einmal öffnet.

Erst von hier aus lässt sich nämlich ausmachen und erkennen, wie weit wir es heute mit der Vollendung des Industrialismus schon gebracht haben und ob und wie weit wir bereits in einer „Postindustriellen Gesellschaft“ leben.

 

8.

Also – was war das für ein Umbruch, der mit der Industriellen Revolution verbunden ist und wie tief reicht er?

 

Entwurzelung, Verlust von Heimat, unbezweifelbare Gewissheiten zerbrachen, und seit Jahrhunderten überlieferte und gelebte Bräuche verloren ihren Sinn. Schon damals entstand ein tiefes Misstrauen in die Naturwissenschaften und mit ihm die grundlose Sehnsucht nach einem irgendwie vorwissenschaftlichen, vortechnischen Heil im Horizont der agrarischen Lebensweise und von dort aus gesehenen diesseits des „Mechanischen“. Mit der Mechanisierung der Produktion, fürchtete man, ginge eine Mechanisierung des Lebens überhaupt und vor allem der Seele einher. Eine vollständige Reduktion bedrohte alle Lebensäußerungen allein auf das, was mit analytischem Verstand mess- und errechen- und verwertbar ist. Dagegen setzte man die Seele als das Andere des Verstandes.

 

„Die Kunst und das unbewusste Schaffen ist die Sprache der Seele, die Wissenschaft und das bewusste Schaffen ist die Sprache des Verstandes.

Die Seele nähert sich vom Lebensdrang, der Verstand von der Todesfurcht.“ (Walter Rathenau) Wie schön das gesagt ist!

 

Industrielle Revolution III:

Nun muss dabei auch bedacht werden, dass – wie wir schon sehen konnten – nicht erst heute mit der wissenschaftlichen Technik des ‚genetic engineering’ jene Wis­sens­basiertheit der modernen, industriellen Gesellschaften neu einstellt. Vielmehr muss vergegenwärtigt werden, dass auch die alten, unterdessen aus Europa in die Schwellenländer Südostasiens und Lateinamerikas emigrierten, klassischen Indus­trien in wissenschaftlichem, nämlich physikalischem Wissen, vor allem der mechani­schen Dynamik, der Thermodynamik und der Dampfmaschine sowie der Elektrodynamik mit Dynamomaschine und Elektromotor, gegründet waren und sind. Und die letzten beiden gaben bekanntlich die techne, die Kenntnis der Regeln für die 1. und 2. industrielle Revolution. Daher ist eigentlich nicht erst die heutige Gesellschaft wis­sens­basiert, wenn man unter Wissen wissenschaftliches Wissen versteht.

 

Aber offenbar anders als heute, bedurften die früheren fundamentalen Wissensarten noch einer weiteren, zweiten Verarbeitungsstufe, um in der Gestalt von großen Industrien die Jahrzehntausende alten agrarischen Gesellschaften umzuwälzen und die Menschen von den ebenso alten Bindungen an ihren Boden, die Erde, zu „emanzipieren“.

 

Diese zweite Verarbeitungsstufe hat vielleicht zunächst die reine, wissenschaftliche Wis­sens­basiertheit der alten Industrien bislang dem analytischen Blick verstellt. Diese zweite Verarbeitungsstufe besorgten nämlich, nicht die Physiker, sondern die Ingenieurwissenschaftler. Es entstand die Unterscheidung zwischen so genannter Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Die Ingenieure, die Akteure der angewandten Forschung, waren die Erfinder und Erfinder-Unternehmer die Brüder Siemens, die Borsigs und Rathenaus und viele mehr. Sie bildeten als solche die eigentliche Wissensprodu­zenten­klasse des Industriezeitalters oder der bürgerlichen, genauer der bürgerlich-proletarischen Gesellschaft. Ihr Produktionswissen war ausschließlich wissenschaftliches Wissen, im Sinne des mathematisch-physikalisch-technischen Wissens.

 

Wulf Krause:

Miniatur: Immanuel Kants Analyse und Synthese

 

Kant verwendet die Termini Analyse und Synthese als Worte, die eine Methode bezeichnen.
Kant verwendet die Termini analytisch und synthetisch zur disjunktiven Unterscheidung von Urteilen.
Kant verwendet den Terminus Analytik als Wort, das die „Zergliederung des Verstandesvermögens selbst“ bezeichnet, „um die die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Begriffen a priori zu erforschen,“ KdV. B90
Vorbemerkung zur Verwendung der Worte Analyse und Synthese als Methode.

 

Die Methode der Analyse und Synthese gewinnt ihre erste klare und klassische Form bei Pappus von Alexandria.

Die Regel der Analyse (topos analyomenos) dient der Problemlösung. Sie besteht aus zwei gegenläufigen Verfahren, Analyse und Synthese. Das Gesuchte          wird als schon erreicht oder als wahr angesehen; dann wird schrittweise zurückgegangen zu seinen Bedingungen, die schon als wahr bekannt sind oder auf Prinzipien stößt, die nicht weiter analysiert werden können. Oder umgekehrt, was sich aus dem Gegebenen ergibt oder was die Konsequenzen des Gegebenen sind bezüglich eines Ziels.

 

Aristoteles verwendet die Worte Analyse und Synthese auf dreierlei Weisen:

Als Methode, als Analyse von lgoi, von Begriffen und Analyse von Gegenständen.

 

Analyein, analysieren heiß für Aristoteles und bis in die Neuzeit: Ein Gegebenes als zusammengesetzt anzunehmen und auf die Bestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist, oder die Bedingungen durch die es zustande kommt, zurückzuführen.

 

1.Aristoteles setzt in der Nikomachischen Ethik (nic. Eth. 3, 112b 20-24) die Methode der mathematischen Analyse als bekannt voraus.

Ihr Kern: eine geometrische Figur wird als konstruiert angenommen und auf die Bedingungen seiner Konstruierbarkeit hin analysiert.

Daneben verwendet Aristoteles die Worte für die Methode, in einer beratschlagenden Rede die darin gesetzten Ziele auf die Mittel zu analysieren, mit denen sie erreicht werden können. Das letzte in der Analyse ist das erste in der Konstruktion. (schönes Beispiel von Ernst Mach über den Wunsch einen wilden Bach überqueren zu wollen.

 

Erste Analytik: Analysis consequaentiae. Lehre dessen, was folgt. Dabei unterscheidet er die

–      judikative Analyse, in der ein Satz als Folgerung aus wahren und notwendigen Prämissen wissenschaftlich gerechtfertigt werden kann.

–      Mos geometrikus. Darin versteht er das Vorgehen (der manifesta mathmatica), worin von in ihrer Wahrheit offenbaren Principien (Defitnitionen) neue Lehrsätze abgeleitet (generiert, produziert) werden. So verfährt die Geometrie, Euklid und Descartes in seiner mathematisch-synthetischen Methode.

 

2. Die Begriffsanalyse zerlegt einen weniger allgemeinen Begriff in die in ihm enthaltenen allgemeineren, höheren Gattungsbegriffe. Hinaufgehen zum Allgemeineren. (Kant: Körper =def. Undurchdringlichkeit steigt auf zu Schwere/Leichtigkeit in Proleg.)

Umgekehrt führt der Weg zu korrekter Definition des Begriffs der Arten und zur synthetischen Begriffsbildung: z.B. Der Einheit wird die Lage hinzugefügt. Das führt zum Begriff des Punktes. (Kant: dem Begriff 5 wird die 7 durch abzählen mit den Fingern oder Kieselsteinen oder Ähnlichem hizugefügt; das führt zum Begriff 12, der vor dem im Begriff 5 nicht gegeben war.) Der Bergriff 12 wird auf diese Weise durch eine manuelle Tätigkeit, das Zählen hervorgebracht, generiert, produziert.

 

3. Gattungsanalyse, naturalis resolutio: Der Gattung nach verschieden sei, was nicht ineinander odr in dasselbe analysiert werden kann, z. B. in eidos/Form und hyle/Materie. Es ist eine Methode, einen materiellen Gegenstand auf seine Bestanteile und Elemente hin zu analysieren (physisch-reale Analyse)

 

 

Eine neue Übersetzung des Pappus durch Commandindo 1589 bringt die mathematische Analyse in die frühneuzeitliche Diskussion.

 

Descartes spricht von Reduktion zum Einfachen und von Komposition  zum Zusammengesetzten, zum Komplexen. (Regulae V. A/T 10, 379). Aber in den Meditaionen unterstellt er das denkende Bewusstsein keineswegs als wahr sondernin jeder Hisicht zu bezweifeln. Onies debutandum est. An allem ist zu zweifeln. Er ersetzt die herkömmliche Voraussetzung der Analyse, die Ahnnahme ihrer als wahren Angenommenheit durch die Unterstellung ihrer Falschheit.

 

Das ermöglicht ihm und er stellt sich dieser Aufgabe, das Denkende Bewusstsein auf seine unbezweifelbaren Prinzipien hin zu analysieren.

Das geht so:

–      Das seiner selbst bewusste Sein erkennt sich als unvollkommen und nicht notwendig existierend.

–      Als solches erkennt es sich aber nur, im Hinblick, in Bezug, in Relation, im Verhältnis, im Vergleich auf und zum Vollkommenen selbst als solchem.

–      Daraus folgt: die Gewissheit des eigenen endlichen und unvollkommenen Seins schließt das Wissen vom unendlichen, vollkommenen und schlechthin notwendigen Sein ein.

So ist für Descartes das Aufdecken der eingeborenen Seins- und Gotteserkenntnis der eigentliche Endpunkt der Analyse.

 

Kant schließt unter dem Namen einer Analytik des Bewusstseins auf eine sehr eigene Weise an Descartes Analyse des Bewusstseins an.

Er kommt vom englischen Empirismus, insbesondere David Hume, dessen Überlegungen „dasjenige war, das mir den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der Speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.“ (Proleg.)

In gewisser Weise setzt der Empirismus die cartesiche Analyse des Bewusstseins fort, nämlich hinsichtlich der Bezweifelbarkeit ihrer Wahrnehmungen, aber ohne die Leitung, Führung durch die metaphysische Frage nach dem vollkommenen und schlechthin notwendigen Sein/Gott. Zuvor nämlich hatte Hume alle metaphysischen Mucken, Gespenster und Hinterwelten gründlich zertrümmert. Bewusstwein wird zum empirischen Bewusstsein. Was aber ist das?

 

Kant erkennt die Metaphysikunabhängigkeit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, ihre (unendliche) Allgemeinheit, Vollkommenheit und schlechthinnige Notwendigkeit. Sie treten gleichsam an die Stelle des Descartesschen Seins / Gottes als Endpunkt der Analyse.

 

Kants Analytik des Bewusstseins unterstellt nun die Gegebenheit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, anerkennt ihren a priorischen, aber wie bei Descartes im Bewusstsein anwesenden Anteil und stellt nun die klassische analytische Frage:

Wie sind wahre Urteile a priori über dem sinnlichen Bewusstsein Gegebenes möglich? Seine Antwort: durch Synthese mit den im Bewusstwein schon immer anwesenden wahren, weil schlechthin notwendigen und vollkommenen Kategorien (a priori) als den letzten Elementen der Analyse des Bewusstseins. Sie sind nämlich jederzeit vor jeder sinnlichen Wahrnehmung schon immer dem Bewusstsein gegeben und stiften durch Vergleich mit dem Vollkommenen, wie bei Descartes, ihre Wahrheit in Vollkommenheit und Notwendigkeit. Solche Urteile nennt Kant „Erfahrungsurteile“.

 

Die Frage ist im Stil der aristotelesschen mathematischen Analyse gestellt: Die setzt die Existenz der Wahrheit der naturwissenschaftlichen synthetischen Urteile a priori voraus, nimmt sie als zusammengesetzt, konstruiert, also synthetisiert an und analysiert sie auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, die Bedingungen ihrer Konstruierbarkeit.

Die KdV. Versteht er in diesem Sinne als einen Traktat der Methode. Sie enthält einen neuen methodischen Ansatz: die transzendentale Methode; sie geht von der Existenz synthetischer Urteile a priori in den Wissenschaften aus und analysiert deren Bedingungen der Möglichkeit im empirischen Bewusstsein. Diese Möglichkeitsbedingungen und ihre Eingeborenheit im erkennenden Bewusstsein sind der Endpunkt der Analyse des wissenschaftlichen ewusstseins.

Das Ganze nennt Kant „transzendentale Analytik“.

 

Heidegger schließt in seiner Daseinsanalytik an Kant und auch an Descartes an. Heidegger geht von der Gegebenheit des Daseins aus  in welchem ein Wissen von der Vollkommenheit und Notwendigkeit des Seins dieses Daseins immer schon anwesend ist. Im Seinsvollzug des Daseins ist Sein immer schon erschlossen und macht sich im In-der-Welt-sein ausdrücklich. Was sich darin als Sein und Seinsstruktur zeigt, ist Phänomen im phänomenologischen Sinne. Das ist im gewöhnlichen Seinsvollzug des Daseins  unthematisch schon immer mitgegeben und als dessen Sinn und Grund ausdrücklicher Aufweisung fähig. Dieses Sein des Seienden ist Endpunkt der Daseinsanalyse.

Das Verfahren, die Methode nennt Heidegger „existenziale Analytik“.

 

Die Methode derer sich Heidegger dabei bedient, unterscheidet sich von der herkömmlichen Analytik, die auf wissenschaftliche Methode der Untersuchung im Stile der analysis naturalis eingeschränkt ist. (Reduktion auf das Mess- und berechenbare).

Er verfolgt die Frage nach dem Sinn von Sein und dem Grund alles Seienden vermittels der phänomenologischen Methode. Die ist anders als die Phänomenologie Husserls, welche immer noch auf die Analyse des Bewusstseins beschränkt blieb. Sie unterscheidet Bewusstseinsvollzug nach realer und intentionaler, nach noetischer und noematischer Analyse.

Heideggers Methode lehnt sich and die von Kant an und untersucht die Bedingungen der Möglichkeit des Daseins als Seinsvollzug. Diese Bedingungen der Möglichkeit nennt Heidegger „Existenziale“; sie vertreten die kantischen Kategorien a priori.

 

Was aber ist empirisches Bewusstsein? Es bietet einen Bereich der beobachtbar ist und einen Teil der sich der Beobachtung entzieht, das der ganze Bezirk der allgemeinen Vorstellungen. Beobachtbar sind dagegen Äußerungen des Bewusstseins im Wort, also in Sprache und Tatsachen, mithin in Handlungen und Verhalten des bewussten und wissenden Organismus als Ganzem. Damit betritt Heidegger philosophisch den neuen Boden der Geschichte und Geschichtlichkeit des Daseins und mithin der Geschichtlichkeit des Seins. Ein absolutes, einziges, vollkommenes und schlechthin notwendiges Sein, das schon immer und für immer die Ordnung der Wahrnehmung und der Welt stiftet, ist von nun an nicht mehr denkbar.